12

Die Jüdin mit dem Revolver

 

Hallo … Hm … Sind Sie es? …«

»Maigret, ja!« seufzte der Kommissar, der die Stimme von Inspektor Dufour erkannt hatte.

»Psst! … In zwei Worten, Chef … Sie ist zur Toilette gegangen … Handtasche auf ihrem Tisch … Ich bin … Enthält Revolver.«

»Ist sie immer noch da?«

»Sie ißt …«

Dufour zeigte in seiner Telefonzelle sicher die Miene eines Verschwörers und vollführte kabbalistische, erschreckte Gebärden. Maigret legte wortlos auf. Er brachte es nicht über sich, zu antworten. Diese kleinen Verschrobenheiten, die ihn sonst lächeln ließen, bereiteten ihm nahezu Übelkeit.

Der Geschäftsführer hatte nachgegeben und dem Letten gegenüber ein zweites Gedeck auflegen lassen. Pietr, der bereits am Tisch saß, hatte den Oberkellner gefragt:

»Für wen ist dieser Platz bestimmt?«

»Ich weiß es nicht, Monsieur. Ich habe Anweisungen …«

Und er war darüber hinweggegangen. Eine fünfköpfige englische Familie hielt Einzug in den Speisesaal und nahm ihm etwas von seiner Kühle.

Maigret gab seinen Hut und seinen schweren Mantel an der Garderobe ab, durchquerte den Raum, blieb einen Moment stehen, bevor er sich setzte, und machte sogar die Andeutung eines Grußes.

Aber Pietr schien ihn nicht zu sehen. Die vier oder fünf Aperitifs, die er getrunken hatte, waren vergessen. Er war kalt, korrekt und genau in seinen Bewegungen.

Keine Sekunde verriet er die geringste Nervosität, und mit verlorenem Blick erweckte er etwa den Eindruck eines Ingenieurs, der mit einem technischen Problem beschäftigt ist.

Er trank wenig, aber er hatte einen der besten Burgunder der letzten zwanzig Jahre gewählt.

Er aß nur leichte Kost: Kräuteromelett, Kalbsschnitzel, Frischkäse.

Zwischen den einzelnen Gängen wartete er, die Hände auf dem Tisch, ohne Ungeduld und ohne auf das zu achten, was um ihn herum vorging.

Der Speisesaal füllte sich.

»Ihr Schnurrbart löst sich …«, sagte Maigret plötzlich.

Er rührte sich nicht; kurz darauf fuhr er jedoch nachlässig mit zwei Fingern über seine Lippen. Es stimmte, war allerdings kaum wahrzunehmen.

Der Kommissar, dessen Ruhe im Präsidium sprichwörtlich war, hatte einige Mühe, gelassen zu bleiben.

Und er sollte an diesem Nachmittag noch härtere Prüfungen zu bestehen haben.

Sicher, er erwartete nicht, daß der ständig von ihm beobachtete Lette irgendeinen kompromittierenden Schritt wagte.

Aber hatte sich bei ihm nicht am Vormittag der Beginn eines Zusammenbruchs abgezeichnet? Und konnte man nicht hoffen, ihn durch die stete Gegenwart dieser Gestalt, die wie ein Schirm zwischen ihm und dem Licht stand, zum Äußersten zu treiben?

Der Lette nahm den Kaffee in der Halle, ließ sich einen leichten Mantel bringen, schlenderte die Champs-Elysées hinunter und ging dann kurz nach zwei in ein Kino.

Erst um sechs Uhr verließ er es wieder, ohne mit jemandem gesprochen, etwas geschrieben oder die geringste verdächtige. Bewegung gemacht zu haben.

Bequem in seinen Sessel gelehnt, war er aufmerksam der Handlung eines albernen Films gefolgt.

Hätte er sich auf dem Weg zur Place de l’Opéra, wo er einen Aperitif trank, einmal umgedreht, hätte er festgestellt, daß Maigret nervöser geworden war.

Und vielleicht hätte er gespürt, daß der Kommissar unsicherer wurde.

Das stimmte insofern, als Maigret in den letzten Stunden, die er im Dunkeln vor einer Leinwand verbracht hatte, deren Bildgeschehen er gar nicht zu erfassen suchte, nicht aufgehört hatte, die Möglichkeit einer kurzentschlossenen Verhaftung zu erwägen.

Aber er wußte nur zu gut, was ihn in diesem Fall erwartete! Keinerlei stichhaltiger Beweis! Und auf der anderen Seite eine Vielzahl von Leuten, die gegenüber dem Untersuchungsrichter, der Staatsanwaltschaft, ja, dem Außen- und Justizminister ihren Einfluß geltend machen würden!

Er ging ein wenig gebeugt. Seine Wunde schmerzte, und der rechte Arm wurde immer steifer. Dabei hatte ihm der Arzt nahegelegt: »Wenn der Schmerz zunimmt, kommen Sie umgehend zu mir. Sie können sich eine Infektion zuziehen …«

Und nachher? Hatte er Zeit gefunden, daran zu denken?

»Nun schau dir das an!« hatte am Morgen eine Dame im Majestic gesagt.

Mein Gott, ja! ›Das‹ war ein Kriminalbeamter, der Verbrecher großen Kalibers daran zu hindern suchte, ihr Handwerk fortzusetzen, und der sich vorgenommen hatte, einen in ebendiesem Grandhotel ermordeten Kollegen zu rächen.

›Das‹ war ein Mann, der sich nicht von einem englischen Schneider einkleiden ließ, der nicht die Zeit hatte, sich jeden Morgen maniküren zu lassen, und dessen Frau seit drei Tagen das Essen vergeblich für ihn kochte und sich damit abfinden mußte, daß sie nichts von ihm hörte.

›Das‹ war ein ausgezeichneter Kommissar mit einem Gehalt von zweitausendzweihundert Francs im Monat, der sich nach einem abgeschlossenen Fall, wenn die Täter hinter Schloß und Riegel saßen, vor ein Blatt Papier setzen mußte, um die Liste seiner Auslagen zusammenzustellen, die Quittungen und Belege daranzuheften und sich dann doch noch mit dem Kassierer herumzustreiten!

Maigret besaß weder ein Auto noch Millionen oder zahlreiche Mitarbeiter. Und wenn er sich erlaubte, über einen oder zwei Polizisten zu verfügen, mußte er nachher über ihre Verwendung Rechenschaft ablegen.

Pietr, der Lette, bezahlte drei Schritte von ihm entfernt seinen Aperitif mit einer Fünfzig-Franc-Note, ohne das Wechselgeld zu nehmen. Das war entweder eine Angewohnheit oder ein Bluff. Dann betrat er ein Wäschegeschäft und verbrachte aus purem Zeitvertreib eine halbe Stunde damit, sich ein Dutzend Krawatten und drei Morgenmäntel auszusuchen, legte seine Krawatte auf den Ladentisch und ging wieder, während ein untadeliger Verkäufer ihn geflissentlich zur Tür geleitete.

Die Wunde mußte sich tatsächlich infizieren. Manchmal wurde die ganze Schulter wie von Messern durchstochen, und Maigret tat die Brust weh, selbst der Magen schien in Mitleidenschaft gezogen.

Rue de la Paix, Place Vendôme, Faubourg Saint-Honoré! Pietr, der Lette, ging spazieren …

Endlich das Majestic, die Boys stürzten herbei, um ihm die Flügeltür aufzuhalten.

»Chef …«

»Bist du immer noch da?«

Es war Inspektor Dufour, der zögernd, mit ängstlichem Blick aus dem Schatten trat.

»Hören Sie … Sie ist verschwunden …«

»Was redest du da?«

»Ich habe getan, was ich konnte, das schwöre ich Ihnen. Sie hat das Select verlassen. Kurz darauf hat sie ein Modehaus, Nummer 52, betreten. Ich habe eine Stunde gewartet, bevor ich den Portier befragt habe. Man hat sie in den Salons der ersten Etage nicht gesehen. Sie ist nur durch das Haus gegangen, das einen Ausgang zur Rue de Berry hat …«

»Na ja!«

»Was soll ich machen?«

»Dich ausruhen!«

Dufour sah dem Kommissar in die Augen, dann wandte er schnell das Gesicht ab.

»Ich schwöre Ihnen, daß …«

Zu seiner großen Verwunderung klopfte ihm Maigret auf die Schulter.

»Du bist ein braver Kerl, Dufour! Mach dir keine Sorgen, mein Freund!«

Und er betrat das Majestic, erwiderte die Grimasse des Geschäftsführers mit einem Lächeln und fragte:

»Der Lette?«

»Er ist gerade in sein Appartement hinaufgegangen.«

Maigret steuerte auf einen Fahrstuhl zu.

»Zweite Etage …«

Er stopfte seine Pfeife, und mit erneutem Lächeln, das noch ein wenig bitterer war als das vorhergehende, stellte er fest, daß er seit Stunden vergessen hatte zu rauchen.

 

Vor Zimmer 17 zögerte er nicht. Er klopfte. Eine Stimme rief: »Herein!« Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.

Im Wohnraum brannte trotz der Heizung zu Dekorationszwecken ein Holzfeuer. Der Lette lehnte am Kamin und schob mit dem Fuß ein Stück Papier in die Glut, das aufflammte und den Brand stärker entfachte.

Auf den ersten Blick erkannte Maigret, daß er nicht so ruhig war wie zuvor, aber er besaß Selbstbeherrschung genug, um sich seine Freude nicht anmerken zu lassen.

Mit seiner kräftigen Hand packte er die Lehne eines winzigen vergoldeten Stuhls, stellte ihn einen Meter vor dem Ofen auf seine gebrechlichen Füße und setzte sich rittlings darauf. Lag es daran, daß er seine Pfeife wieder zwischen den Zähnen hatte? Oder weil sein ganzes Wesen nach den Stunden der Niedergeschlagenheit, vielmehr der Unschlüssigkeit, wieder Leben in sich spürte?

Jedenfalls fühlte er sich in diesem Augenblick stärker denn je. Er war Maigret hoch zwei, wenn man so sagen kann. Ein in alte Eiche oder besser in Stein gehauener Block.

Er stützte seine beiden Ellbogen auf den Stuhlrücken. Und er sah aus, als würde er im Notfall eine seiner breiten Hände um den Hals des Mannes legen und ihn mit dem Schädel gegen die Wand schlagen.

»Ist Mortimer zurück?« fragte er.

Der Lette, der das verbrannte Papier betrachtete, hob langsam den Kopf.

»Ich weiß es nicht …«

Seine Finger verkrampften sich, was Maigret nicht entging. Was ihm ebenfalls nicht entging, war ein Gepäckstück, das sich vorher nicht in dem Appartement befunden hatte und das nun in der Nähe der Schlafzimmertür stand.

Es war eine gewöhnliche Reisetasche, die höchstens hundert Francs wert war und nicht in diese Umgebung paßte.

»Was ist da drin?«

Keine Antwort. Aber ein nervöses Zucken der Gesichtszüge.

Schließlich eine Frage:

»Wollen Sie mich verhaften?«

Und man hatte den Eindruck, daß eine gewisse Erleichterung durch die Angst in der Stimme des Mannes hindurchklang.

»Noch nicht …«

Maigret stand auf, ging zu dem Gepäckstück und schob es mit dem Fuß vor den Kamin, wo er es öffnete.

Es enthielt einen nagelneuen grauen Konfektionsanzug, an dem noch das Etikett mit den üblichen Ziffern hing.

Der Kommissar nahm den Telefonhörer auf.

»Hallo? … Ist Mortimer schon zurück? … Nein? … Und niemand hat für Zimmer 17 etwas abgegeben? … Hallo! … Ja … ein Paket von einem der großen Herrenwäschegeschäfte? … Sie brauchen es nicht heraufzubringen …«

Er legte wieder auf und fragte brummig:

»Wo ist Anna Gorskin?«

Er hatte endlich das Gefühl, vorwärtszukommen!

»Suchen Sie sie doch …«

»Mit anderen Worten, sie ist nicht in diesem Appartement … Aber sie ist hier gewesen … Sie hat diese Tasche gebracht und einen Brief …«

Mit einer hastigen Geste zerkrümelte der Lette die Asche des verbrannten Papiers, so daß nur noch Staub übrigblieb.

Der Kommissar begriff, daß dies nicht der Augenblick war, unnötige Worte zu machen, daß er im Vorteil war, aber der kleinste Fehler ihn um seinen Vorsprung bringen würde.

Routinemäßig erhob er sich und machte eine unvermittelte Bewegung auf das Feuer zu, so daß Pietr erzitterte und eine flüchtige Abwehrgebärde zeigte, über die er errötete.

Denn Maigret stellte sich nur mit dem Rücken an den Kamin. Mit kurzen kräftigen Zügen rauchte er seine Pfeife.

Danach lastete ein so langes, aufgeladenes Schweigen über ihnen, daß ihre Nerven zum Reißen gespannt waren.

Der Lette stand wie auf heißen Kohlen, zwang sich jedoch, Haltung zu bewahren. Als Antwort auf Maigrets Pfeife zündete er sich eine Zigarre an.

 

Der Kommissar begann auf und ab zu gehen. Als er sich auf das Tischchen stützte, auf dem das Telefon stand, hätte er es beinahe zerbrochen.

Sein Gegner sah nicht, daß er auf den Knopf drückte, ohne den Hörer abzunehmen. Das Ergebnis trat sofort ein. Das Telefon klingelte. Das Büro fragte:

»Hallo? … Haben Sie angerufen?«

»Hallo! … Ja. Was sagen Sie? …«

»Hallo? … Hier ist das Hotelbüro …«

Und Maigret unerschütterlich:

»Hallo! … Ja … Mortimer? … Danke! … Ich werde ihn gleich aufsuchen …«

»Hallo! … Hallo! …«

Er hatte kaum den Hörer aufgelegt, da läutete es schon wieder. Der Geschäftsführer erkundigte sich beunruhigt:

»Was geht da vor? … Ich verstehe nicht …«

»Ach was!« donnerte Maigret.

Er beobachtete den Letten, der viel blasser geworden war und zumindest für einen kurzen Moment zur Tür stürzen wollte.

»Es ist nichts!« sagte der Kommissar zu ihm. »Mortimer-Levingston ist zurückgekehrt. Ich habe gebeten, daß man mich benachrichtigt, wenn er auf seinem Zimmer ist …«

Er sah Schweißtropfen auf der Stirn seines Gegenübers.

»Wir sprachen von dem Gepäckstück und seinem Begleitbrief … Anna Gorskin …«

»Von Anna ist niemals die Rede gewesen …«

»Verzeihung … Ich glaubte … Ist der Brief nicht von ihr?«

»Hören Sie …«

Der Lette zitterte. Das war offensichtlich. Und er war ungewöhnlich nervös. Sein ganzes Gesicht, die ganze Person überlief ein Zucken.

»Hören Sie! …«

»Ich höre!« sagte Maigret beiläufig, mit dem Rücken zum Feuer.

Seine Hand war zu seiner Revolvertasche geglitten. Er brauchte nur eine Sekunde, um anzulegen. Er lächelte, aber durch sein Lächeln hindurch merkte man, daß seine Aufmerksamkeit äußerst gespannt war.

»Also? … Ich sage Ihnen doch, daß ich höre …«

Doch der Lette griff zu einer Whisky-Flasche und stieß zwischen den Zähnen hervor:

»Was soll’s …«

Und er schenkte sich ein Glas voll, kippte es hinunter und sah seinen Gegner mit den trüben Augen Fedor Jurowitschs an. Auf seinem Kinn glitzerte ein Tropfen Whisky.

Maigret und Pietr der Lette
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